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Chieming, Deutschland – Politik ist ein Geschäft der Grauzonen, doch in jüngster Zeit scheint sich die Vorstellung durchzusetzen, dass moralische Integrität über praktischen Fortschritt gestellt werden sollte. Die Kontroverse um die jüngste Steuersenkung in Thüringen verdeutlicht diese Problematik.
Die rot-rot-grüne Koalition in Thüringen hat scharfe Kritik daran geübt, dass die CDU die Zustimmung der AfD scheinbar bewusst in Kauf nahm, um eine notwendige Steuersenkung durchzusetzen. Die Frage, die in den Raum gestellt wird, lautet: ist es moralisch verwerflich, eine Partei, die immerhin um die 20 % der Wählerstimmen auf sich vereint, als moralisch verwerflich zu betrachten, obwohl sie einem sinnvollen Gesetz zugestimmt hat? Es ist ein wachsendes Phänomen im deutschen politischen Diskurs: Ein sinnvolles Gesetz, das breite Zustimmung findet, wird zum Politikum der besonderen Art, sobald die AfD ihre Zustimmung erteilt. Was als pragmatischer politischer Fortschritt beginnt, wird schnell zu einer moralischen Debatte, die das eigentliche Gesetz in den Hintergrund drängt.
Die Situation eröffnet ein weites Feld für politischen Opportunismus. Parteien wie SPD, Die Linke und die Grünen, die sonst für Pragmatismus und Kompromissbereitschaft stehen, nutzen die Gelegenheit, die CDU moralisch zu diskreditieren. Dabei gerät die Frage, ob das Gesetz an sich gut oder schlecht ist, völlig aus dem Fokus.
Die Regierungsparteien präsentieren die CDU gern als das politische Trojanische Pferd, das die AfD salonfähig macht. „Es ist einfach, der CDU die Schuld zu geben, anstatt in den eigenen Reihen nach Fehlern zu suchen“, kommentiert ein politischer Beobachter. So werden unpopuläre Entscheidungen und gesellschaftliche Spaltungen nicht als mögliche eigene Fehler analysiert, sondern der CDU angelastet, die sich immer mehr dem rechten Spektrum öffne.
Ein elementarer Bestandteil jeder demokratischen Kultur ist die Fähigkeit zur Selbstkritik. Indem die Regierungsparteien den Fokus allein auf die CDU richten, entziehen sie sich der notwendigen Selbstreflexion. Die Frage, ob die eigene Politik möglicherweise zur Polarisierung beiträgt, wird dabei völlig ausgeblendet. Diese einseitige Schuldzuweisung ist nicht nur politisch riskant, sondern auch analytisch ungenau. Die Gründe für das Erstarken der AfD sind vielschichtig und können nicht allein der CDU zugeschrieben werden. Durch diese Vereinfachung wird das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben.
In der hitzig geführten Debatte über den Einfluss der AfD auf die deutsche Politik taucht immer wieder ein alarmierender Trend auf: Die vermeintliche Nähe zu der rechtsorientierten Partei wird zum K.-o.-Kriterium für jegliche politische Diskussion. Dieser Umstand gefährdet das Fundament der Demokratie und erschwert die sachliche Auseinandersetzung mit wichtigen politischen Fragen.
Die bloße Assoziation einer Partei oder einer politischen Idee mit der AfD wird rasch als toxisch angesehen. Dieser Mechanismus schränkt den demokratischen Diskurs erheblich ein und dient oft als Vorwand, unangenehme oder kontroverse Themen von der Tagesordnung zu verbannen. Dabei rückt die Frage, ob ein Gesetzentwurf oder eine Initiative an sich sinnvoll ist, in den Hintergrund.
Früher galt in der Politik das Prinzip, dass gute Ideen, unabhängig von ihrer Herkunft, diskutiert und gegebenenfalls umgesetzt werden sollten. Heute ist dieser pragmatische Ansatz vielfach einer Haltung gewichen, die politische Vorschläge schon im Keim erstickt, wenn sie nur den Hauch einer Nähe zur AfD aufweisen.
Das demokratische System lebt von Pluralismus und der Fähigkeit zur Auseinandersetzung. Wenn jedoch bestimmte Themen als „AfD-nah“ stigmatisiert und damit aus der politischen Diskussion entfernt werden, steht die Demokratie vor einem ernsthaften Problem. Ein Tabu zu schaffen, das politische Fragen aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zu einer bestimmten Partei ignoriert, ist ein gefährlicher Schritt.
Es ist höchste Zeit, dass die demokratischen Parteien sich diesem Dilemma stellen. Während es wichtig ist, klare Grenzen zu ziehen und antidemokratische Tendenzen zu bekämpfen, ist es ebenso entscheidend, den politischen Diskurs offen und pluralistisch zu halten. Ansonsten läuft man Gefahr, das demokratische System selbst zu untergraben.
Das Entstehen von Tabuzonen in der Politik ist ein Warnsignal, das ernst genommen werden sollte. Nur durch einen offenen Diskurs können wir die Demokratie lebendig halten und den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein.
Es ist ein heikles Unterfangen für die Ampel-Koalition auf Bundesebene sowie für die rot-rot-grüne Landesregierung, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Durch die Dämonisierung der AfD erreicht man paradoxerweise genau das Gegenteil von dem, was man beabsichtigt: die Vertreibung der eigenen Wählerschaft in die Arme der AfD.
Das grundlegende Problem ist die Frage, ob die Politik nur eine Abfolge von moralischen Urteilen sein sollte oder ob sie auch Raum für pragmatische Entscheidungen lassen muss. Die Steuersenkung in Thüringen ist aus der Perspektive vieler Menschen eine sinnvolle Maßnahme, unabhängig von den politischen Akteuren, die sie durchgesetzt haben.
Die Kernfrage bleibt: Ist es akzeptabel, Fortschritt zu erzielen, selbst wenn dies durch die Zusammenarbeit mit kontroversen Akteuren geschieht? Und falls nicht, wie weit soll die Moral die politische Agenda dominieren? Es ist eine Zwickmühle, aus der es scheinbar keinen einfachen Ausweg gibt.
Die politischen Parteien in Deutschland stehen vor einer moralischen und pragmatischen Herausforderung. Es könnte riskant sein, sich nur auf die Moral zu konzentrieren und dabei die Forderungen und Bedürfnisse eines wesentlichen Teils der Bevölkerung zu ignorieren. Es ist ein heikles Spiel, und der Einsatz ist nicht weniger als die Integrität des demokratischen Systems. Eine Aufforderung an die Ampel-Parteien kann daher nur lauten:
Erinnert euch daran, dass konstruktive Kritik und persönliche Verantwortung der Schlüssel zu einer reifen und funktionierenden Demokratie ist. Nur indem eigene Fehler erkannt und adressiert werden, kann die Hoffnung entstehen, dass die kollektiven Herausforderungen, vor denen wir stehen, auch bewältigt werden.
Kevin Kühnert. Generalsekretär der SPD.Mitglied im Deutschen Bundestag. Bild: dpa